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Donnerstag, 15. August 2013

Gérard

Diese Geschichte habe ich vor einigen Jahren geschrieben und sie kürzlich beim Aufräumen gefunden.


Nie wieder habe ich jenes grosse, alte, uralte Haus gefunden. Obwohl ich lange danach gesucht habe. Wirklich lange. Ich weiss noch genau, bei welcher Metrostation wir ausgestiegen waren und dann hatten wir diese vielspurige, breite Strasse überquert. Doch dann verliert sich meine Erinnerung in dem Gewirr enger, kleiner Gässchen, durch die wir bestimmt zwanzig Minuten gelaufen waren und die mir wie ein Labyrinth erschienen sind. Natürlich habe ich auch herumgefragt. Bekannte, Leute auf der Strasse, sogar einen netten Herrn aus der Gemeindeverwaltung des dortigen Distrikts habe ich befragt. Aber niemand hat je von diesem Haus gehört oder gar von dem Treiben darin. Irgendwann gab ich die Suche schliesslich auf. Manchmal lässt man die Vergangenheit besser ruhen. Doch möchte ich Dir, lieber Freund, von meinen Erlebnissen berichten. Wenn jemand davon erfahren sollte, dann Du.

Ich lernte ihn während einer meiner Reisen kennen, als ich eines abends, ich glaube es war ein Donnerstag, alleine in einer Bar sass und an meinem Martini nippte. Ich war noch nicht sehr lange da, vielleicht ein halbe Stunde, und beobachtete durch den Spiegel hinter dem Tresen die anderen Gäste. Ich liebe es, Leute zu beobachten. Man kann durch die Kleidung, Gestik, das Getränk... so vieles über einen Menschen erfahren. Aber, so musste ich lernen, manchmal kann man auch getäuscht werden. Manchmal nützt einem jegliche Menschenkenntnis, die man zu besitzen glaubt, nichts. Rein gar nichts. 
Etwas weiter links von mir stand ein Mann, schätzungsweise fünf Jahre älter als ich. Vielleicht auch etwas mehr. Er war gross, sicher 1.90m, hatte tiefschwarzes, volles Haar, das an den Seiten bereits erste Graustiche aufwies. Hin und wieder schob er eine unbändige Haarsträhne zurück, die ihm in die braungebrannte Stirn fiel. Was mich aber vor allem faszinierte, waren seine Augen. Sie schienen schwarz zu sein, aber manchmal, wenn einer der letzten Sonnenstrahlen sein Gesicht traf, schienen sie doch eher grünlich. Lässig lehnte er an der Bar, einen Whisky in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. Plötzlich merkte er, dass ich ihn anschaute und nickte mir freundlich zu. Ich errötete - wollte ich ihn doch nicht anstarren! Aber er lächelte nur und bot mir aus einer wunderschön verzierten, filigranen Silberschachtel eine Zigarette an. Dankend nahm ich an und so kamen wir ins Gespräch. Er hiess Gérard. Gérard war Franzose, irgendwo aus der Nähe von Marseille, sprach aber nahezu fliessend Deutsch, da er in Hamburg Geschichte studiert hatte. Ich interessiere mich, wie du ja sicher weisst, sehr für die Antike. Es stellte sich heraus, dass dies sein Spezialgebiet war. Es war äusserst interessant, sich mit Gérard zu unterhalten. Er wusste viel zu erzählen und das in einer Weise, dass ich gar nicht merkte, wie die Zeit verging. Zudem hatte er so viele Interessen! Musik und Kunst zum Beispiel, vor allem alles surrealistische hatte es ihm angetan. Es wurde dunkel, die Bar leerte sich und bald waren wir die einzigen Gäste. Als der Barkeeper schliesslich die Musik ausschaltete und begann, die Lichter zu löschen, verliessen wir die Bar. Wir verabredeten, uns am darauf folgenden Nachmittag zu treffen und gingen dann jeder seines Weges.

In den nächsten Tagen verbrachten wir viel Zeit miteinander. Da wir beide alleine unterwegs waren, hatten wir beschlossen, die Stadt gemeinsam zu erkunden. Wir verstanden uns wirklich prächtig, ohne uns jedoch zu nahe zu kommen. Ich bewunderte ihn für sein schier grenzenloses Wissen und mochte seinen Humor. Dennoch schien ihn etwas düsteres zu umgeben. Es flösste mich aber keine Angst ein. Im Gegenteil machte es ihn nur noch interessanter, da es ihm eine geheimnisvolle Ausstrahlung verlieh. 
An unserem letzten gemeinsamen Abend, wir sassen wieder in derselben Bar in der wir uns kennengelernt hatten, waren wir beide etwas wehmütig. Waren wir doch in der kurzen Zeit irgendwie Freunde geworden. Schliesslich trennten wir uns ohne viel Worte und gaben uns das Versprechen, in Kontakt zu bleiben.

Wieder daheim ging mir Gérard einfach nicht aus dem Kopf.

Du magst dich nun wundern, wieso ich Dir nie von ihm erzählt habe, wenn er doch eine zeitlang eine gewisse Rolle in meinem Leben gespielt hat. Nun, ich habe meine Gründe ihn nie wieder sehen zu wollen und versuche daher jene Geschehnisse die danach folgten, zu vergessen. Doch die Jahre haben mir gezeigt, dass man nichts vergessen kann, was einen innerlich nicht loslässt, was man nicht verarbeitet hat. Das ist der Grund, weshalb ich jetzt, nach so langer Zeit, die Geschichte erzähle. Und ich wüsste nicht, wem ich mich sonst anvertrauen könnte.

Nur wenige Monate später trafen wir uns wieder. Dieses Mal in Italien. Beide waren wir geschäftlich dort und beschlossen, uns am Wochenende in der uns am nächsten liegenden Stadt zu treffen. Er hatte dort Freunde, wie er sagte, und kenne sich daher aus. Wir wohnten in demselben Hotel und trafen uns auch dort, da er schon einen Tag früher eingetroffen war. Er begrüsste mich herzlich und fragte mich, ob ich Lust hätte, am nächsten Abend ein Konzert seiner Freunde zu besuchen. Ein Jazzkonzert. Da ich ein grosser Fan von Jazzmusik bin, sagte ich natürlich zu. 
Es war wirklich schön, Gérard wieder zu sehen. Wir verbrachten den Abend mit gutem Wein und langen Gesprächen. 
Sehr spät erst gingen wir zurück ins Hotel. Sein Zimmer befand sich direkt neben meinem. In beschwingter Laune - nicht nur wegen dem Wein - machte ich mich bettfertig und beschloss dann, um den Abend ausklingen zu lassen, noch eine Zigarette auf meinem winzigen Balkon zu rauchen. Von dort blickte man über einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein wunderschöner Brunnen stand, der leise vor sich hin plätscherte. In Gedanken versunken stand ich da, als ich plötzlich von nebenan, aus Gérards Zimmer, seltsame Geräusche hörte. Ein Kratzen und Scharren, als würde eine Katze ihre scharfen Krallen an der Wand wetzen. Ich beugte mich leicht vornüber, um so vielleicht durch das Fenster seiner Balkontüre einen Blick in sein Zimmer erhaschen zu können. Ich sah nichts, hörte jetzt aber dumpf Gérards Stimme. Er sprach in einer mir unbekannten Sprache. Sie war mir so fremd, dass es sich eher wie eine Aneinanderreihung seltsamer Töne anhörte und so gar nichts mit einer irdischen Sprache gemeinsam zu haben schien. Neugierig beugte ich mich noch etwas weiter vor und noch weiter, bis ich fast vom Balkon kippte. Plötzlich sah ich einen schwarzen Schatten hinter seiner Balkontür vorbei huschen. Ich konnte gerade noch einen leisen Schrei des Erschreckens unterdrücken und hätte beinahe mein Gleichgewicht verloren. Entsetzt trat ich einen Schritt vom Geländer zurück. Die eigenartigen Geräusche waren verstummt. Einzig allein das Plätschern des Brunnens war zu hören. Stille. Ich beschloss, zu Gérard herüber zu gehen, um mich zu versichern, dass alles in Ordnung war mit ihm. Aus dem soeben gehörten und gesehenem wurde ich nicht schlau. Eine halbe Minute später klopfte ich also zaghaft an seine Tür. Nichts. Kein Laut war zu hören. Ich klopfte erneut, diesmal energischer. Ein Ächzen drang hinter der Tür hervor. Schliesslich wurde der Schlüssel im Schloss umgedreht und Gérard öffnete die Tür. Er sah ganz normal aus, wie immer. "Ist alles in Ordnung bei dir?" fragte ich besorgt. Ja klar, antwortete er, alles sei in bester Ordnung und warum ich denn so besorgt blicke. Ich erzählte ihm nicht von den Geräuschen, die ich gehört hatte, auch nicht vom Schatten. Plötzlich kam mir das alles so unwirklich kindisch vor. Trotzdem warf ich über seine Schulter einen kurzen Blick in sein Zimmer. Alles schien normal. Doch nun nahm ich, wenn auch nur ganz leicht, einen seltsamen Geruch, ja beinahe Gestank, wahr. Ach, ich bildete mir das bestimmt nur ein, sagte ich mir. "Ach nichts", sagte ich also nur, "ich wollte dir nur noch einmal gute Nacht wünschen." Er schaute mich an, mit diesem verschmitzten Lächeln, das mir jedes Mal weiche Knie verursachte, und ehe ich mich versah, gab er mir einen langen, leidenschaftlichen Kuss. "Schlaf gut, Amelie." Und schloss die Tür wieder. Etwas verdattert, mit zitternden Knie und brennenden Lippen ging ich zurück in mein Zimmer und legte mich endlich schlafen. Nach einer langen Weile fand ich zu einem unruhigen Schlaf, voller düsterer und beängstigender Träume. Bereits kurz nach Sonnenaufgang wachte ich schweissgebadet auf, da ich im Traum von einer Bestie verfolgt worden war. Nun, es war keine Bestie im eigentlichen Sinne, sondern eine junge, bildhübsche Frau, mit langen dunklen Haaren, ebenso dunkel wie ihre Augen, die mich mit ihrem Blick zu durchdringen schienen. Ich weiss nicht wieso, aber der Blick dieser Frau hatte mir aus irgendeinem Grund mehr Angst eingejagt als alles andere was ich bisher gesehen hatte. An Schlaf war nicht mehr zu denken. So nahm ich ein ausgedehntes Bad und weckt nach einem kurzen Morgenspaziergang Gérard.

Der Rest des Tages verlief eigentlich ziemlich umspektakulär, vor allem kusslos. Wir fuhren für den Nachmittag ans Meer und kamen am Abend zurück, um in seinem Lieblingsrestaurant etwas zu essen und danach an das Konzert seiner Freunde zu gehen.
Er erklärte mir, es fände in deren Haus statt und läge etwas ausserhalb vom Stadtzentrum, dass wir aber mit der Metro bequem dorthin gelangen konnten. 
Von der Metrostation führte unser Weg uns schliesslich durch kleine Strassen und enge Gassen, vorbei an alten, hohen Häusern, die bestimmt schon bessere Zeiten gesehen hatten. Der Verputz bröckelte bei den meisten Gebäuden bereits ab und in den untersten Stockwerken waren teilweise kein Fenstergläser mehr und die Fenster stattdessen mit Kartonschachteln abgedeckt. Mir fröstelte ein wenig und ich war froh, Gérard bei mir zu haben, ohne den ich mich niemals in eine solche Gegend gewagt hätte. Schon bald verlor ich jeglichen Orientierungssinn und folgte mehr oder weniger blind meinem Gefährten, der sich hier bestens auszukennen schien. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten wir schliesslich das das wohl älteste und heruntergekommenste Haus von allen. Die obersten Stockwerke waren eingefallen und fast die gesamte Fassade bis hoch zum zweiten Stockwerk war über und über mit Moos bewachsen. Es war unheimlich. Ich fragte Gérard, ob denn sein Freund wirklich hier wohne? Er lachte nur und meinte, dieser Freund habe eben einen eigenen Geschmack und sei ohnehin ein sehr spezieller Mensch, aber das würde ich dann schon merken, wenn ich seine Musik höre. 
Noch heute klingt mir sein genauer Wortlaut nach: "Amelie", sagte er, "Amelie, wenn du die wunderlichen Klänge seiner Musik hörst, die man, einmal gehört, nie wieder in seinem Leben vergisst, die einen bis ins tiefste innere durchdringen, dann verstehst du auch, warum er sich diesen Ort als Wohnstätte ausgesucht hat." Er sollte recht behalten. Ich habe diese Klänge bis heute nicht vergessen, so gerne ich es auch würde. Sie verfolgen mich nicht selten bis in meine Träume. 

Wir traten ein und befanden uns in einer komplett anderen Welt. Alles was ich überblicken konnte war in Schwarz gehalten. Die Wände, der kleine Tisch neben der Eingangstür, der Rahmen des halb blinden Spiegels darüber, der Kerzenständer in der gegenüberliegenden Ecke sowie die sechs Kerzen darin. Ei mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Man musste offenbar nicht erst die Musik hören, um zu merken, dass der Mensch, der hier residierte, seinen ganz eigenen Geschmack hatte. Wir durchquerten den kleinen Raum und betraten einen grösseren. Es war eine Art Saal, der voller Menschen war. Obwohl bestimmt an die vierzig Personen hier drin waren, herrschte nicht, wie erwartet, ein wildes Stimmengewirr, sondern es war überraschend leise. Die meisten schauten andächtig zur Bühne hoch, auf der nun drei Männer mit ihren Instrumenten Platz nahmen. Dann kam noch ein vierter, ohne Instrument, es musste sich um den Sänger handeln. Er nickte Gérard zu, als er ihn entdeckte. Wir nahmen ebenfalls Platz unter den Zuschauern. Ich betrachtete den Raum, in dem wir uns befanden. Wie im Eingangsbereich war auch hier alles in schwarz gehalten. An den Wänden befanden sich Bilder, die direkt auf die Mauer gemalt zu sein schienen. Sie zeigten düstere, furchteinflössende Wesen, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Mir schauderte. Eines zeigte ein Wesen, das einem Stier glich, doch es hatte sechs Beine, oder besser gesagt zwei Beine und vier Arme. Es stand aufrecht und hielt in der einen Klaue einen menschlichen Kopf, den es auf eine seiner riesigen, scharfen Krallen aufgespiesst hatte. In einer andere Klaue hielt es einen Stab, dessen Ende eine eigenartige Form aufwies, auf eine Art verdreht und doch schien es gerade. Noch nie hatte ich so etwas gesehen. Das Wesen hatte schleimige, braune Haut auf der etwas unverkennbares wucherte und aus seinem Maul tropfte Blut.
Auf einem anderen Bild war eine sexuelle Szene dargestellt. Eine Frau mit üppigen Brüsten an denen sich ein menschenähnliches Wesen labte befand sich gerade im Geschlechtsakt mit etwa, das dem Stierdings aus dem vorherigen Bild glich. Ihr Gesicht war zu einem Stöhnen verzerrt, wobei ich mir nicht sicher war ob vor Lust oder aus Schmerz. Es wirkte so unglaublich real.
Schaudernd wandte ich mich wieder der Bühne zu. Die Menschen die um uns herum sassen wirkten eigentlich alle recht gewöhnlich. Aber ich hörte niemanden lachen, nur hin und wieder flüsterte jemand leise etwas seinem Nachbarn zu. 
Schliesslich, nah mehrmaligem Räuspern des Sängers, begann die Band zu spielen. Und wie sie spielten. Niemals, vorher nicht und auch nachher nie wieder, habe ich solche Klänge gehört. Die Musik zog mich vollkommen in ihren Bann, mit ihrer düsteren Melodie, ihren weichen Klängen, deren Rhythmus immer schneller zu werden schien, immer wilder, aggressiver. Die Töne bohrten sich in mein Gehör, schienen in meinem ganzen Körper zu toben. Sie erzählten von alten, vergangenen Zeiten, von Dingen die kein Mensch je zu Gesicht bekommen sollte. Sie füllten meinen Kopf mit Gedanken, die ich nie zuvor gedacht hatte. Gedanken schwarz wie die Nacht. Die Melodie erweckte Bilder in meinem Kopf, die nicht irdischen Ursprungs sein konnten.Bilder von riesigen Ungeheuern die gegeneinander kämpften. Bilder von Wesen, die aussahen als wären sie im Verfall begriffen, die mich umtanzen, mich umschmeichelten, mir nah und immer näher kamen mich mit ihren Zungen berührten, bis ich meinte ihren Gestank nach Verwesung riechen zu können. Und trotz des ganzen Ekels wollte ich es. Wollte ich von ihnen berührt werden. 
Das war ganz  bestimmt kein Jazz.Der Saxophonist brachte Töne zustande, die ich zuvor für gar nicht möglich gehalten hätte und der Cellist spielte in einem so unglaublichen Tempo, dass ich glaubte seinen Bewegungen gar nicht mehr folgen zu können. Un der Sänger... Seine Stimme ging durch Mark und Bein. Sie riss mich mit sich, forderte zum Tanze auf und liess mich nicht wieder los, wirbelte mich um meine eigene Achse, warf mich in die Luft, fing mich wieder auf. Plötzlich merkte ich, dass ich, ebenso wie alle anderen, am tanzen war. Wild wirbelte ich herum, tanzte mit Gérard ebenso wie mit anderen, mir wildfremden Männern und Frauen. Die Musik hatte mich in eine Ekstase versetzt. Es war eine wilde Orgie des Tanzens und der Musik.
Plötzlich sah ich, wie vor mir zwei Männer begannen, eine Frau auszuziehen, und anfingen sie zu küssen und zu lecken. Sie genoss es sichtlich. Dies riss mich aus meinem Delirium. Von einer Sekunde zur anderen war ich wieder ich selbst. Ich musste hier raus! Ich sah mich um und stellte entsetzt fest, dass dieses "Konzert" wirklich zu einer Orgie auszuarten begann. Jeder schien mit jedem zugange zu sein, ein grosser Haufen wilder, nackter Menschen. Ich glaubte Gérard mit einem jungen, blonden Mann zu sehen, war aber nicht sicher. Es war mir egal. Ich wollte nur noch weg.

Verzweifelt rannte ich durch die nächstbeste Tür und schloss diese sogleich hinter mir. Stille. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, hörte ich keinen Ton mehr. Komplette Stille und komplette Dunkelheit umgaben mich. Ich holte tief Luft und spürte, wie ich langsam wieder klar wurde im Kopf. Ich holte mein Feuerzeug heraus und erkannte mit dessen Hilfe, dass ich mich nicht, wie erhofft, in dem kleinen Eingangsraum befand, sondern in einem langen Gang, von dem links und rechts scheinbar unendlich viele Türen abzweigten. Wahllos öffnete ich die erste Tür zu meiner Linken. Eine Treppe führte in die Tiefe. Plötzlich durchzuckte ein Schmerz meinen Daumen. Ich hatte mich am, inzwischen heiss gewordenen, Feuerzeug verbrannt. Aus Reflex liess ich es los und hörte wie es die Treppe hinunterpolterte. In dieser alles umfassenden Stille hörte es sich tatsächlich wie ein Poltern an. Oh nein, dachte ich, nicht auch das noch! Nun, wollte ich nicht im Dunkeln herumtappen müssen, blieb mir wohl nichts anderes übrig, als mein Feuerzeug zu suchen. Ich lief ein paar Stufen hinunter, bis zu der Stelle, wo ich glaubte, dass mein Feuerzeug gelandet sei. Vorsichtig tastete ich den Boden ab. Plötzlich fasste ich in etwas weiches, schleimiges, pulsierendes und kaltes. Ich stiess einen Schrei aus, stolperte vor Schreck - und fiel in die Tiefe.
Irgendwann hatte die Treppe ein Ende und ich blieb bewegungslos liegen. Jeder einzelne Knochen tat mir höllisch weh, mein Kopf schien zu platzen und ich spürte etwas warmes, klebriges mein Gesicht heruntertropfen. Ich musste mir den Kopf aufgeschlagen haben. Einige Minuten blieb ich so liegen und wagte es nicht, mich zu bewegen.  Ich lauschte in die Dunkelheit hinein und hörte - nichts. Totenstille. Was war das wohl gewesen, das ich vorhin berührt hatte? Es erinnerte mich stark an eine Nacktschnecke, nur das dieses Ding viel grösser gewesen war. Und Nacktschnecken pulsieren meines Wissens nichts. Ekel ergriff mich. Und Angst. Was wenn es noch mehr von diesen Dingern hier unten gab? Gar nicht erst daran denken. 
langsam versucht ich aufzustehen. Soweit ich das beurteilen konnte, schien nichts gebrochen zu sein. Nur mein Kopf fühlte sich an, als würde er demnächst explodieren. Wie sehr sehnte ich mich nach meinem Zuhause, einem Aspirin und einem warmen Bad... Aber nein, ich war ja in diesem verfluchten Gebäude. Ich versuchte mich zu beruhigen. Es gab drei Möglichkeiten: Nach oben gehen und dort zurück zu den anderen oder den Ausgang suchen. Oder hier meinen Weg suchen. Ich entschied mich für letzteres. Vielleicht gab es ja noch einen anderen Aufstieg als diese Treppe. An diesem ekligen Ding traute ich mich nämlich  nicht noch einmal vorbei. Dabei erschien mir inzwischen sogar der Gedanke, wieder zur Orgie zurückzukehren fast verlockend. Zumindest verglichen mit meiner jetzigen Situation, allein in einem stockdunklen Keller, in Gesellschaft von schleimigen Dingern. Also tappte ich im Dunkeln der Wand entlang, in der Hoffnung auf eine Tür oder Treppe zu stossen. Schon nach wenigen Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, stiess meine Hand auf raues Holz und dann auf eine Türklinke. Ich wollte diese soeben hinunterdrücken, da hörte ich hinter mir ein entsetzliches Geräusch. Eine Mischung aus Schnauben, Krächzen und Quietschen. Gleichzeitig vernahm ich das Kratzen von Krallen auf dem nackten Steinboden, das sich rasend schnell auf mich zu bewegte. 

Dies alles mag sich sehr unwahrscheinlich für dir anhören. Du denkst wahrscheinlich, ich habe das alles erfunden, meine Fantasie sei mit mir durchgegangen oder ich möchte dir einen Bären aufbinden. Aber ich schwöre bei Gott, genaue und nicht anders habe ich es erlebt. Ich habe nichts ausgeschmückt oder weggelassen. Ich berichte dir die Geschehnisse genau so, wie sie sich abgespielt haben, damals in diesem Sommer. Wenn du auch an meinem Verstand zweifeln magst, ich kann es dir nicht verdenken. Ich habe selbst daran gezweifelt, wollte alles selbst nicht glauben, es als Hirngespinst abtun, als Auswuchs meiner Fantasie, die Schuld den drei Gläsern Wein geben, die ich zuvor am Abend getrunken hatte. Aber ich habe mir das alles nicht eingebildet - oh, wie sehr ich mir wünsche, es wäre so! Aber auf der Erde gibt es manche Dinge, um die wir besser nichts wissen.

In Panik öffnete ich die Tür, rannte in das Zimmer hinein und warf die Tür kräftig hinter mir zu. Höchsten eine halbe Sekunde später prallte etwas mit voller Wucht dagegen. Ein heiseres Knurren und Gurgeln erklang, dann ein wildes Kratzen, als wolle sich das Wesen durch die Tür hindurch kratzen. Es warf sich erneut gegen die Tür, die bereits verdächtig knarrte. Ich wollte den Ausgang dieser Szene nicht miterleben und drehte mich schleunigst um, um herauszufinden, ob dieses Zimmer einen anderen Ausgang besass. 
Was ich nun erblickte, liess mir das Blut in den Adern gefrieren. Am anderen Ende des Zimmers, das nur schwach von einer Öllampe beleuchtet war, sass das Mädchen aus meinem Traum. Als ich sie erblickte begann sie zu lächeln und gab dabei ein gurgelndes Geräusch von sich. Dies schien ein Befehl gewesen zu sein, denn mit einem Schlag wurde es ruhig hinter der Tür. Sie schaute mich mit grässlichen, alles durchdringenden Augen an. So sehr ich es auch wollte, ich konnte meinen Blick nicht von ihren Augen abwenden, noch brachte ich ein Wort heraus oder konnte mich bewegen. Wie festgefroren stand ich da und starrte in ihre Augen. Ich konnte ihre Augenfarbe nicht ausmachen, da sie ständig zu wechseln schien. Von grün zu blau zu purpur zu tiefschwarz. Schliesslich, wie mir schien nach einer Ewigkeit, sprach sie: "Da bist du endlich. Wir haben lange auf dich gewartet." Dann streckte sie mir ihre Hand entgegen. Wie im Fiebertraum ging ich zu ihr und nahm ihre Hand. 
War ihre Gegenwart schon fürchterlich gewesen - jetzt schien es mich innerlich zu verbrennen. Ich spürte, dass sie in mir war. Mit ihren Gedanken, ihrem ganzen Wesen. Sie brannte mich förmlich von innen aus. Ich war nicht fähig, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Ich war ihr willenlos ausgeliefert. Langsam verlor ich das Bewusstsein.

Die Erinnerung an die nächsten Tage - oder waren es Stunde, Wochen? - sind sehr verschwommen. Ich habe dunkle Bilder von einem grossen, tiefblauen, stillen See in meinem Kopf, von Gérard, der nicht mehr Gérard war. Gérard eng umschlungen mit diesem Mädchen. Gérards Lippen die mich überall berühren und meine Körper brennen lassen. Gérard in mir. Dieses Wesen von den Bildern an der Wand. Es hat dieselben Augen wie das Mädchen. 
Unzählige Bilder und Gedankenfetzen, aber ich kann sie einfach nicht einordnen. Sie ergeben keinen Sinn. Ich weiss nicht, welche der Wahrheit und welche meiner Fantasie entspringen. Ich hörte Stimmen in einer seltsamen Sprache zu mir sprechen, gleich der, die ich aus Gérards Hotelzimmer gehört hatte. Ich fühlte Hände überall auf meinem Körper, auf meinem Gesicht, meinem Bauch, zwischen meinen Beinen. Die Stimme des Mädchens die mir zuflüstert: "Nun bist du endlich zu Hause. Du gehörst zu uns."

Das erste woran ich mich konkret erinnern kann, ist, dass ich in meinem Hotelzimmer im Bett liege. Die heulende Sirene eines draussen vorbeifahrenden Polizeiautos hatte mich aufgeweckt. Was machte ich hier? Was war mit mir geschehen? War etwa alles nur ei böser Traum gewesen? Ich richtete mich auf und sogleich begann mein Schädel wild zu pochen. Leise stöhnte ich auf und legte mich wieder hin, um erneut, ganz langsam, versuchen aufzustehen. Ich schlurfte ins Bad, wo mich mein eigenes Spiegelbild erschreckte. Um meinen Kopf war fein säuberlich ein weisser Verband gewickelt. Meine Lippen waren aufgeplatzt. Ich schaute an mir herunter. Mein vollkommen nackter Köper war mit blauen Flecken und Schrammen übersät. War es doch kein Traum gewesen? Dann sah ich meine Hand. Ich sog scharf die Luft ein. Was ich sah erschrak mich zutiefst: Meine Hand wies schlimme Verbrennungen auf - genau dort, wo das Mädchen meine Hand gehalten hatte.Deutlich waren ihre Fingerabdrücke zu erkennen. 
Was sollte ich tun? Ins Krankenhaus gehen? Aber meine Verletzungen schienen fachgerecht versorgt worden zu sein. Zur Polizei gehen? Was sollte ich denen denn sagen? Dass ich von einem fiesen Mädchen, dass sich grässliche Wesen als Haustiere hält, vergewaltigt worden bin? Sie würden mich für verrückt erklären - zu recht. 
Also liess ich mir ein heisses Bad ein. Vielleicht würde das meine Lebensgeister wieder erwecken. Wie spät war es überhaupt? Wie viel Zeit war inzwischen vergangen?
Während sich die Wanne langsam mit Wasser füllte und der süssliche Duft des Badeschaums das Zimmer zu durchdringen begann, schaltete ich den Fernseher ein. Es war Dienstag, neun Uhr früh. Ich war also drei Tage weg gewesen. Drei Tage an die ich praktisch keine Erinnerung habe. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit. 
Nach dem Bad fühlte ich mich etwas besser. Ich zog mich an, ging zur Empfangshalle hinunter und fragte nach einem Aspirin. Während mir dieses gebracht wurde, fragte ich den Rezeptionisten, ob er sich erinnern könne, wann ich denn ins Hotel zurückgekehrt sei und mit wem. Er blickte mich reichlich komisch an, antwortete mir aber, ich sei gestern sehr spät, vielleicht so gegen vier Uhr heute früh zurückgekommen, in männlicher Begleitung. Als ich ihn um eine Beschreibung des Mannes bat, beschrieb er exakt Gérard. Als ich ihn aber nach Gérard fragte, der doch das Zimmer neben mir gebucht hatte, gab er an, diesen Mann noch nie zuvor gesehen zu haben. Im Zimmer nebenan hätte auch kein Signore Gérard Millaud gewohnt, sondern ein Signore Matteo Kanuva. Dieser hätte auch meine Zimmerreservation bis Mittwoch verlängert. 

Ich reiste noch am selben Tag zurück nach Hause. Von Gérard - oder Matteo - habe ich nie wieder etwas gehört. Aber seither habe ich regelmässig Albträume. Noch heute, obwohl es schon so lange her ist und alle Wunden längst verheilt sind, schmerzt meine Hand manchmal. 

Einige Jahre später ging ich zurück und versuchte, dieses Haus wieder zu finden. Aber ich hatte kein Glück. So lange ich auch in dieser zwielichtigen Gegend umherstreifte, dieses Haus habe ich nie gefunden. Auch hatte niemand dort je davon gehört. 

Mit diesem Bericht an dich, lieber Freund, versuche ich dieses Erlebnis endlich hinter mir zu lassen. Wer sonst sollte mich verstehen?





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