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Mittwoch, 29. August 2012

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben

Challenge: Eine Figur leiht sich Geld aus, was viel bessere Folgen hat, als erwartet. Im Laufe der Geschichte findet eine Figur heraus, dass jemand vorgetäuscht hat, er/sie zu sein.
Modifikation: Aufgrund von zu heissen Temperaturen (falls sich das für Sie nach einer guten Entschuldigung anhört) waren wir beide etwas einfallslos. Weshalb wir uns darauf einigten, nur einen Teil der Challenge anwenden zu dürfen. Ganz nach persönlichem Wunsch bzw. Kreativitäts-Potenzial. 


Barnabas hatte alles gehabt. Er war ganz oben gewesen um schliesslich ganz unten angekommen. Er hatte Millionen verdient, war nur mit den bekanntesten und reichsten des Landes verkehrt. Ass nur in den teuersten Restaurants. Jeder kannte seinen Namen. Dann hatte er alles verloren. War auf der Strasse gelandet. Zunächst hatte man hinter seinem Rücken über ihn geredet. Aber Menschen sind vergesslich. Nach ein paar wenigen Monaten wusste niemand mehr, wer er war. Längst hatte jemand anderes seinen Platz in der Firma eingenommen, längst lag jemand anderes im Bett seiner Frau, längst spielte jemand anderes mit seinen Kindern. Nicht einmal das störte ihn. Er merkte schnell, dass er diesem Leben nicht nachtrauerte. Und schon gar nicht diesen Menschen, die ihn so schnell und herzlos ersetzten. So lebte er Tag vor Tag vor sich hin, kümmerte sich immer weniger, trank immer mehr, lebte in die Tage hinein. 

Alles änderte sich an diesem einen Tag. Er begann wie jeder andere. Der Lärm der Stadt weckte ihn bereits früh am Morgen. Auch daran hatte er sich gewöhnt. Er setzte sich an die Ecke, an der Männer im Anzug und Frauen in knielangen Röcken und weissen Blusen jeden Morgen zur Metrostation hetzten, in der einen Hand den Kaffee, in der anderen die Financial Times. Diejenigen, die dachten, sie hätten fast alles erreicht im Leben. Die dachten, es ginge ihnen gut und sie leben das Leben, das sie sich immer erträumt hatten. Diejenigen, die noch ein Gewissen hatten. Weshalb er sich hier jeden Morgen genügend Geld für eine Flasche billigen Fusel erbetteln konnte. Danach fischte er sich eine Zeitung aus einer Mülltonne und ging zum riesigen Stadtpark, wo er sich gemütlich auf eine Bank setzte und Ketchup und Kaffeereste von der Zeitung wischte, um diese dann zu lesen. Dieses Ritual war das einzige welches er aus seinem „früheren Leben“ mitgenommen hatte. Obwohl die Welt sich nicht um ihn scherte, berunruhigte es ihn, nicht zu wissen was in ihr los war. In der Regel verbrachte er dann die meiste Zeit des Tages alleine im Park, trank aus seiner Flasche und las in der Zeitung. Aber nicht heute. Heute sollte alles anders kommen. Vielleicht lag es daran, dass Freitag der Dreizehnte war. Vielleicht war es auch Schicksal. 

Er lag auf seiner Parkbank, die fertig gelesene Zeitung diente inzwischen als Kopfkissen, lauschte den Vöglen, hing seinen Gedanken nach und trank hin und wieder einen Schluck aus seiner Flasche. Das war seine Art, das Leben zu geniessen. Er brauchte dazu nicht einmal die Gesellschaft anderer Menschen - sie war ihm sogar eher zuwider. Die meisten Menschen waren entweder zu egozentrisch, befanden sich bildungsmässig auf dem Niveau einer Strassentaube oder waren schlichtweg langweilig. Da war er sich selber ein besserer Gesprächspartner. „Nicht war?“ brummelte er in seinen Bart. Das war auch der Hauptgrund, weshalb er sich strikt nur alle zwei bis drei Wochen wusch. Er hätte nämlich sehr wohl die Gelegenheit gehabt, sich täglich zu waschen. Aber irgendwann hatte er festgestellt, dass, je mehr er stank und desto verwahrloster er wirkte, er nicht nur mehr Geld erbetteln konnte sondern er vor allem in Ruhe gelassen wurde. Die Leute schauten ihn an, rümpften die Nase, warfen ihm vielleicht aus Mitleid einige Münzen zu und zogen weiter ihres Weges. Die anderen Obdachlosen hatten längst begriffen, dass er ein Einzelgänger war.

Aber heute kam dieser Schnösel und setzte sich neben ihn. Und rümpfte dabei nicht einmal mit der Nase. Er holte eine etwas zerknautschte Tüte aus seiner Aktentasche hervor und hielt sie ihm hin. Als würden sie sich kennen. „Was’n das?“ murmelte Barnabas, bemüht, sein Desinteresse zu Tage zu bringen. „Sie wollen doch bestimmt frühstücken, ihr Lieblingsbrötchen!“ Nicht nur, dass er sich einfach so ungefragt zu ihm auf die Bank gesetzt hatte und ihn in seiner Siesta störte, jetzt mass sich dieser Schnösel also auch noch an, sein Lieblingsbrötchen zu kennen. Barnabas war aber auch ein sehr höflicher Mensch - meistens jedenfallls - weshalb er den Mann nicht verjagte. Er zögerte und konnte sich nicht entscheiden, ob er seinem Magen Beachtung schenken sollte, der definitiv noch etwas Nahrung vertragen könnte, oder doch seinem Wunsch nach mental erhoslamer Einsamkeit folgen. Während er überlegte, riss der Mann die Papiertüte auf und hielt ihm das frisch duftende Gebäck unter die Nase. Womit sein Magen als Sieger aus der internen Diskussion ging. Er nahm es entgegen und biss herzhaft herein. Ein Früchtebrötchen! Das könnte tatsächlich sein Lieblingsbrot sein. Sehr lecker. Er bedankte sich mit vollem Mund. Der Mann im teuren Anzug lächelte etwas unterkühlt und blieb immer noch sitzen.
„Schöner Tag heute, was?“
„Mhm…“, nuschelte Barnabas und genehmigte sich einen grossen Schluck Fusel aus seiner leider schon halb leeren Flasche.
„Hat es denn heute geklappt?“
„Hm?“
„Na, sie wissen schon. Der Adler. Und?“ Neugierig schaute er Barnabas an und wiederholte seine Frage noch einmal, als dieser ihn nur anstarrte ohne etwas zu erwidern.
Entweder der hat sie nicht alle, dachte Barnabas, oder der will mich hier verarschen. Und beschloss, mehr aus Höflichkeit, bei dem Spielchen mitzumachen. Anscheinend würde er den Typen so schnell sowieso nicht loswerden. Und wenn er tatsächlich eine Schraube locker hatte, könnte sich doch sogar eine lustige Unterhaltung daraus ergeben. Diese schien sich ohnehin nicht vermeiden zu lassen.
„Ach ja, der. Der Adler. Ja, der flog heute nicht so hoch.“
Besorgt hob sein Gegenüber eine Augenbraue, um dann seinen Blick nachdenklich in die Ferne zu richten. „Das ist nicht gut. Gar nicht gut.“ Im Flüsterton fügte er hinzu: „Aber der Vogel ist erledigt?“
„Ja natürlich. Das Vögelchen singt keine Lieder mehr!“
„Gut, gut. Das ist sehr gut. Na dann, bleiben sie mal auf ihrem Posten!“
„‘türlich!“
Der Mann stand auf, glättete seinen Anzug mit den Händen, nickte ihm noch einmal freundlich zu und verschwand dann in die Richtung, aus der er gekommen war. 

Komischer Kauz, dachte sich Barnabas, ass sein Brötchen fertig und döste dann, die Flasche im Arm, ein.
Kurz darauf wurde er unsanft geweckt. Jemand rüttelte an seiner Schulter. „Hey, du Sack, wach schon auf!!“ Barnabas öffnete ein Auge und blickte in ein junges Gesicht mit kantigen Gesichtszügen. „Mach Platz, Mensch!“ Noch einmal wurde er in die Schulter gestossen, diesmal so fest, dass seine Flasche laut klirrend zu Boden fiel und zerbrach. Die durchsichtige Flüssigkei versickerte langsam zwischen den Steinen. „Jetzt reichts aber! Was ist denn bloss los heute!“, donnerte Barnabas. Das war seine einzige Flasche für heute gewesen. Und er verspürte ganz und gar keine Lust, den restlichen Tag nüchtern zu verbringen. Er wollte soeben den jungen Mann an seinem Shirt packen und ihn anbrüllen, er solle ihm gefälligst eine neue Flasche kaufen, als dieser stattdessen ihn am Kragen packte und zischte: „Also, wie du siehst, haben wir Wind bekommen von der Sache. Und finden es gar nicht gut, aussen vor gelassen zu werden. Das verstehst du doch sicher?“ Er grinste schleimig. Bevor Barnabas antworten konnte, öffnete er seine Lederjacke ein bisschen.Eine kleine, schwarze Pistole blitzte hervor.
„Entweder du leitest alle Informationen unverzüglich an uns weiter, oder du hast die Sonne heute zum letzten Mal aufgehen sehen.“
Barnabas wusste nicht, was er sagen sollte. Die Worte des Jungen schienen ihm sehr theatralisch. Die Pistole jagte ihm keine Angst ein. Der Tod jagte ihm keine Angst ein. Schon lange nicht mehr. Etwas in ihm war schon vor langer Zeit gestorben. Und was sollte nach dem Tod schon erschreckenderes kommen, was er nicht schon zu Lebzeiten gesehen hatte? Vor allem hatte er jedoch keine Ahnung wovon der Halbstarke überhaupt sprach. Heute war ein sehr verwirrender Tag. Vielleicht sollte er in Zuknft doch etwas weniger trinken. Oder eben erst recht noch mehr.  
„Und? Was sagst du, Alter?“ Die Stimme des Typen wurde gefährlich leise.
Barnabas überlegte, dass er den Typen wohl am schnellsten loswerden würde, wenn er ihm einfach zustimmte. „Is ja gut. Ihr bekommt was ihr wollt. Ich sag euch alles.“
„Dann verstehen wir uns ja. Ist übrigens auch das mindeste, was du für uns tun kannst, nach allem. Ich werde da hinten, in Sichtweite, warten.“ Er schloss seine Jacke wieder, stand auf und griff in seine Hosentasche, aus der er einige zerknitterte Geldscheine hervorzog. Er war sie Barnabas vor die Füsse. „Hier, somit bin ich dir nichts mehr schuldig. Kannst dir gleich auch ´ne neue Flasche billigen Fusel davon kaufen. Damit dir auch jeder dein Spielchen abkauft. Und nach der Aktion von heute kann dann wieder jeder seiner Wege gehen.“  Somit entfernte er sich, drehte er sich dann aber noch einmal um: „Komm ja nicht auf falsche Gedanken. Ich werde dich nicht mehr aus den Augen lassen.“

Barnabas verstand die Welt nicht mehr. Wagte aber nicht, zuviel darüber nachzudenken. Früher hatte er sehr viel Zeit mit Nachdenken verbracht. Und wohin hatte es ihn letztendlich geführt? Er zählte das Geld und stellte erstaunt fest, dass er von diesem Betrag durchaus einige Tage leben konnte. Was solls, dachte er bei sich, ist die Welt eben verrrückt geworden. Solange es mir zugute kommt, ist mir das egal. Somit zockelte er zum nächstgelegen Supermarkt. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der junge Mann ihm in sicherem Abstand folgte. Sollte er doch. Er dachte einfach nicht weiter darüber nach sondern freute sich über den Geldsegen. Zufrieden mit sich und der neuen Welt und einer Flasche Jack Daniels unter dem Arm, kehrte er schliesslich in den Park zurück. Barnabas fühlte sich tatsächlich fast glücklich, ein Gefühl das schon lange nicht mehr von ihm Besitz ergriffen hatte. Nicht, dass er unglücklich wäre. Auch nicht verbittert. Er lebte bloss einfach so vor sich hin. Und obwohl er Störungen in seinen täglichen Routinen, seinen immer gleichen Tagen hasste, schien dieser hier doch noch gutes zu bringen. Er musste grinsen. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl inneren Friedens. Das musste wohl von dem ungewohnt edlen Wässerchen her rühren, das er sich heute leisten konnte, dachte er sich. Doch als er sich wieder seiner Parkbank näherte, verging ihm seine gute Laune ein bisschen. Der Schnösel war wieder da. Er wollte gerade in die andere Richtung gehen, aber da befand sich bereits der andere Typ. In einigen hundert Metern Entfernung sass er auf einer Parkbank. Ausserdem hatte der Anzugmensch ihn schon gesehen und winkte ihm zu. Barnabas setzte sich zu ihm. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig.
„Na…“, begrüsste er seinen neuen Freund. Dieser war ganz aufgeregt: „Der Adler ist gelandet!“
Jetzt fängt das schon wieder an, dachte sich Barnabas.
„Das hast du doch gesehen?“
„‘Türlich.“
„Und was tun wir jetzt? Welches ist der nächste Schritt?“
„Jetzt sammeln wir die Eier ein.“
„Was?! Jetzt schon? Halten sie das für einen klugen Schachzug?“
„‘türlich. Muss so.“
Der Mann wirkte etwas unsicher. „Naja, sie müssen es ja wissen.“ Er holte ein Blackberry hervor und drückte eine Weile wild darauf herum. „Nun denn, dann mache ich mich wohl besser mal an die Arbeit.“, sagte er schliesslich in einem ruhigen, bestimmten Ton, holte eine Pistole mit Schalldämpfer hervor und drückte ab.

Barnabas hatte nicht einmal Zeit irgendwie zu reagieren, alles ging viel zu schnell. Der Halbstarke kippte lautlos vornüber und fiel zu Boden. Er rührte sich nicht mehr. Nicht einmal geschrien hatte er. Eine Blutlache bahnte sich langsam ihren Weg unter seinem Körper in den grünen Rasen hinein.

Der Schnösel steckte die Waffe wieder weg. „Jetzt aber nichts wie weg. Kommen sie, ich bringe sie nach Hause, damit sie sich umziehen können.“ Er rümpfte die Nase. „Und duschen wäre sicher auch keine schlechte Idee. Sie sind ja schon fast zu authentisch unterwegs!“ Er wollte eben aufstehen, da erklang Britney Spear "Oops I did it again" aus seinem Blackberry. Er runzelte die Stirn und antwortete. Das Gespräch dauerte nicht sehr lange. Die Miene des Mannes vedüsterte sich zunehmends. „Er hat was?!“, blaffte er schliesslich wütend in den Hörer. „Das werden wir noch sehen.“, knurrte er, bevor er auflegte und mit einer ruckartigen Bewegung seine Waffe zog, um sie Barnabas an den Kopf zu halten.
 „Wer sind sie?!“, schrie er ihn an.
„Ich… wer sind denn sie?“, entgegnete Barnabas entgeistert. Der Tag schien doch nicht so gut zu sein wie er angenommen hatte.
„Verarschen sie mich nicht!“, brüllte der Mann. „Was haben sie mit Rodriguez gemacht? Für wen arbeiten sie? Antworten sie mir!“ Er verlieh seinen Fragen Nachdruck, indem er jedesmal mit der Pistole auf seine Stirn einschlug. Definitiv. Kein guter Tag.
„Ich weiss nicht, wovon sie sprechen!“ versuchte Barnabas sich zu verteidigen.
„Haben sie Rodriguez umgebracht? Wer sind sie?!“
„Ich heisse Barnabas.“
„Barna.. was? Wer sind sie?! Verdammte Scheisse, ich habe die ganze Zeit gedacht sie seien Rodriguez! Für wen arbeiten sie, gottverdammt!“
Barnabas antwortete nicht.
Der Mann im Anzug drückte Barnabas Gesicht auf die Bank. Die noch ungeöffnete Whisky-Flasche rollte von der Bank und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden.
„Wir werden schon herausfinden, wer sie sind. Sogar ohne dass sie ihr Drecksmaul aufmachen.“ Er stand auf, hielt Barnabas die Pistole an den Hinterkopf, murmelte „Ich hasse es, ihre Gesichter sehen zu müssen.“ und drückte ab. Er steckte die Pistole wieder ein, strich seinen Anzug glatt und verliess den Park ohne sich noch einmal umzudrehen. 

Freitag, 3. August 2012

Dies ist keine Liebesgeschichte

Challenge: Die Geschichte spielt ein Jahrhundert in der Zukunft. Es kommt ein Estrich bzw. Dachwohnung ("attic") darin vor.

Zur Geschichte meines Kollegen.


Es war drückend heiss draussen. Einer dieser Sommertage, an denen man sich kaum bewegen mochte. Zumindest empfand Simona es so. Sie hasste diese Hitze. Sie bevorzugte angenehmes Herbst- oder Frühlingswetter. Noch nicht so kalt, dass man sich mit Winterjacke und Schal vermummem musste, aber auch nicht so heiss, dass man halbnackt durch die Gegend rennen musste um dem Hitzetod zu entrinnen. Also lag sie in ihrer Attikawohnung und versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Was sich einigermassen schwierig gestaltete, da ihre Katze zu ihr auf den Schoss wollte. Aber bei aller Liebe ertrug sie dieses als kleine Heizung fungierende Fellbündel jetzt nicht. Unter lautem Protest von Seiten der Katze schob sie sie vorsichtig mit dem Fuss weg und liess sich dann ächzend wieder zurück auf die Liege sinken. Sie bewegte sich nur hin und wieder um nervös auf die Uhr zu schauen. So lag sie da, seit sie am Morgen aufgestanden war. Wahrscheinlich hätte sie rausgehen sollen. Sich ablenken. Auf andere Gedanken kommen. Aber wohin hätte sie denn gehen sollen? Es würde sie doch alles an ihn erinnern. Freunde hatte sie dank ihm kaum mehr. Und die wenigen verbliebenen waren in den Ferien oder am arbeiten. Während sie ihren Job los war. Fristlos gekündigt. Dank ihm. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Die erste Woche hatte sie hauptsächlich heulend und Schokolade essend verbracht. So klischeehaft das auch sein mochte. Die süsse, leckere Nahrung verschaffte ihr irgendwie Trost. Dann, nach einigen Kilo Schokolade, war sie hauptsächlich wütend. Wie konnte er nur! Inzwischen befand sie sich in einem schon beinahe apathischen Zustand. 

Sie versuchte, sich auf andere Gedanken zu bringen und griff nach der Fernbedienung, um sich vom Fernseher ablenken zu lassen. Schnell zappte sie sich durch die Kanäle. Nur um festzustellen, dass, wie immer um diese Zeit, nur Schwachsinn lief. Talkshows, Reality-TV, Dauerwerbesendung. Erstaunt sah sie, wie ein etwas rundlicher Mann eine „Hornhautraspel“ an einer überschminkten Frau die übertrieben fröhlich in die Kamera guckte, austestete. Als er schliesslich mit überschwenglicher Freude eine Handvoll Hautraspeln in die Kamera hielt, schaltete Simona de Fernseher angeekelt wieder aus. So viele neue Erfindungen seit den letzten Jahrzehnten und dennoch war das Fernsehprogramm beschissen wie eh und je.

Ihre Katze wagte einen erneuten Angriff auf ihren Schoss. Simona zerknüllte ein Blatt Zeitungspapier und warf es in die andere Ecke des Raumes, um ihr Haustier so eine Weile zu beschäftigen. Wieso musste sie auch in einem so alten Haus leben. Es war irgendwann anfangs des 21. Jahrhunderts erbaut worden. Seither zwar renoviert, aber nicht genügend isoliert worden. Es gab heutzutage so viele Gadgets, die einem das Leben erleichterten. Man musste praktisch nichts mehr selber machen, könnte das Leben liegend verbringen. Das äusserliche Leben war zwar vereinfacht worden. Aber die echten Probleme ware trotzdem noch da. Und die zwischenstaatlichen Beziehungen hatten sich in den vergangenen hundert Jahren sogar verschlimmert. Die Menschen schienen nichts aus ihrer Geschichte gelernt zu haben. Alles schien sich zu wiederholen, nur schlimmer, da die Waffen immer präziser und gefährlicher wurden, immer modernere Technik zur Verfügung stand. Die grossen Nationen von damals waren längst nicht mehr was sie waren. Sie waren ihrem eigenen Grössenwahn zu Opfer gefallen. Die Länder, die ihre Waffen von ihnen aufgekauft hatten, hatten sich in der grossen Revolution 2085 gegen die USA verbündet. Es wurden weltweite, neue Waffengesetze verlangt. Seither hatte sich einiges geändert. Die USA ihre weltweite Machtstellung verloren und sich als Folge in zwei Länder aufgeteilt: Die Südoststaaten, die das Waffengesetz nicht ändern wollten, wurden zu Red States of America. In den letzten dreissig Jahren hatte deren Regierung die Red Union gegründet, eine Vereinigung von Schmugglern, Spionen und Auftragsmördern, die weiterhin Waffen ins Land schmuggelten. Immer wieder wurde bekannt, dass sich in den obersten Posten von verschiedenen Ländern Maulwürfe befanden. Doch diese tauchten jeweils gleich wieder unter. Die Welt bewunderte und hasste diese Spione zugleich. Vor einigen Wochen aber hallte eine schier unglaubliche Nachricht durch die Medien: Man hatte Jack Johanson, ein mutmasslicher Spion der Red Union, festgenommen! Und das ausgerechnet hier, in diesem kleinen Land, das von der Revolution und den mit ihr einhergehenden Wirrungen mehrheitlich verschont geblieben war. Aber es herrschte mehr Armut denn je. Politiker und Verbrecher aller Welt hatten aufgehört, in die Firmen und Banken ihres Landes zu investieren. Spätestens da hätte sie sich doch über seinen Lebensstil wundern sollen. Aber Liebe macht ja bekanntlich blind. Und dämlich. Und verwandelt einen offensichtlich sogar in eine Verräterin. Es gab Pillen für alles, man könnte praktisch aufhören zu essen. Aber gegen die Liebe und ihre Nebenwirkungen hatte man noch nichts erfunden. 

Simona bekam das Gefühl, in ihrer winzigen Dachwohnung langsam durchzudrehen. In den letzten zehn Tagen war sie nur einmal aus dem Haus gegangen, um etwas Brot zu kaufen, weil die Website des Lieferdienstes ständig abgestürzt war. Wahrscheinlich hatte sich jemand in ihr System gehackt. Einer von denen, die ihr ständig anriefen , um ihr mitzuteilen was für eine Hure sie doch sei. Was für eine Verräterin. Dass man sie lieber tot sehen möchte. Dass sie es nicht wert sei, hier zu leben. Nach drei Tagen schmiss sie ihr Telefon aus dem Fenster. In den Pool ihrer Nachbarin, deren Stimme sie unter den unzähligen Anrufern erkannt hatte. Sie hatte es ja nicht mal bis zum Bäcker um die Ecke geschafft, ohne mit leeren Büchsen und sogar einer Tomate beworfen zu werden.

Keiner fragte sie, wie es soweit kommen konnte. Keiner überlegte sich, wie sie sich wohl fühlte. Keiner kam zu der logischen Schlussfolgerung, dass sie vielleicht tatsächlich unschuldig war. Keiner fragte nach. Alle urteilten nur. Niemand dachte daran, was das alles wohl in ihr ausgelöst hatte. Das hatte sie nicht nur ihm zu verdanken, sondern zu einem Grossteil auch der Presse. Alle grösseren Schundblätter des Landes hatten hier sturmgeklingelt. Ob sie Stellung beziehen wolle. Warum es soweit kommen konnte. Wie sie ihre Tat erklärem könne. Ob sie denn so wenig Achtung vor ihren Mitmenschen, vor ihrem Land, empfinde. Sie hatte allen dasselbe geantwortet: „Lasst mich in Ruhe, ich werde nichts sagen, ich werde niemandem von euch ein Interview geben.“ Einer der anwesenden Reporter hatte daraufhin, wohl um nicht mit leeren Händen dazustehe, eine Geschichte über sie geschrieben, die mehrheitlich erstunken und erlogen war. Danach fingen die Drohanrufe an. Und sie konnte nichts dagegen tun, denn dann müsste sie der Öffentlichkeit die Wahrheit erzählen. Und das durfte sie nicht. Also versteckte sie sich vorerst in ihrer Wohnung. Zusammen mit ihrer Katze. Wenigstens die verurteilte sie nicht. Wieder schaute sie auf die Uhr. Verdammt, wo blieb er denn nur?

Angefangen hatte alles ganz harmlos. Ein Flirt in einer Bar. Danach ein Date. und noch eines. Beim vierten Date überraschte er sie mit einem selbergekochten Essen, Candellight-Dinner auf seiner Terrasse mit Blick auf den See. Absolut romantisch. Er gestand ihr seine Liebe, die sie natürlich erwiderte. Dann waren sie ein Paar. Ein absolut glückliches Traumpaar, das alle beneideten. Vier Jahre lang. Sie stritten kaum, verstanden sich perfekt, lasen sich gegenseitig jeden Wunsch von den Lippen. Er war der perfekte Gentlemann, ein wunderbarer Liebhaber und ein fürsorglicher Freund. So betrachtet, dachte sie jetzt, sollte sie vielleicht nicht ganz so wütend sein. Es war trotz allem eine wunderschöne Zeit gewesen. Sie war sich so sicher gewesen, in ihm den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Sie lachte bitter auf. Welch Ironie. 

Als sie gemeinsam in den Ferien waren fiel ihr zum ersten mal auf, dass etwas nicht stimmte. Strandurlaub im Süden. Damals waren sie knapp ein Jahr zusammen. Sie verbrachten zwei Wochen in dem kleinen, verschlafenen Fischerdörfchen am Meer. Er mag keine mit Touristen überlaufene Orte, hatte er erklärt. Ihr war es recht. Dennoch fand sie es seltsam, dass er, unter fadenscheinigen Ausreden, drei Mal einfach stundenlang spurlos verschwand. Sie hatte ihn zunächst sogar verdächtigt, sie zu betrügen, seinen Beteuerungen, so etwas würde er niemals tun, dann aber geglaubt. Er meditiere eben manchmal gerne allein am Strand. Um seine Mitte zu finden. Auch als er ihr einen fest zugeschnürten kleinen Sack gab, um ihn zu entsorgen, und der Frage, was es denn sei, auswich, hatte sie nicht weiter nachgefragt. Hätte sie doch. 

Diese seltsamen Ereignisse häuften sich. Er fand immer Ausreden. Sie glaubte aber immer mehr daran, dass er sie betrügte, eine Liebhaberin hatte. Wieso sonst war er manchmal tagelang nicht erreichbar? Es war für sie die einzig logische Erklärung. Vor einem knappen Monat schliesslich, als sie eigentlich ein romantisches Wochenende zusammen in der Berghütte von Freunden verbringen wollten, hatten sie sich deswegen so heftig gestritten, dass sie ihre Sachen zusammengepackt und alleine zurück nach Hause gefahren war. In einem öffentlichen Jet, obwohl sie diese engen Flugdinger hasste. Sie vermisste die Züge, die vor zehn Jahren abgeschafft wurden, wegen den ganzen Selbstmördern, die sich ständig auf die Schienen warfen. Kein Wunder, in dieser Welt, dachte sie. 

Etwa eine Woche lang hörte und sprach sie kein Wort mit ihm. Er versuchte einige Male, sie anzurufen, aber sie nahm nie ab. Am darauf folgenden Montag schliesslich, lehnte ein Briefumschlag an ihrer Türe. Sie kehrte an diesem Tag ungewöhnlich spät nach Hause zurück, weil sie noch mit einer Freundin weg war. Was bei ihr unter der Woche eher selten der Fall war. Ihr stockte der Atem für eine Sekunde, als sie seine geschwungene Handschrift auf dem Umschlag erkannte. Simona. Nur ihr Name. Sie nahm den Brief in die Hand und trat in ihre Wohnung ein. Sollte sie sich freuen? Oder den Brief besser ungelesen wegwerfen? Dazu war sie zu neugierig. Ohne ihre Schuhe auszuziehen setzte sie sich ins Wohnzimmer und las die wenigen Worte. „Simona, Liebste, bitte lass mich alles erklären. Du tust mir Unrecht. Komm direkt zu mir, ruf mich nicht an. Ich bin heute und morgen zu Hause. Ich liebe dich.“ Ihre Hand begann zu zittern und ein mulmiges Gefühl nahm von ihr Besitz. Dieses Gefühl würde lange Zeit nicht mehr von ihr weichen. Kurzentschlossen machte sie sich auf den Weg zu ihm. Sonst würde sie diese Nacht sowieso kein Auge mehr zu tun. 

Seither waren gerade mal etwas mehr als zwei Wochen vergangen. Und sie überlegte sich immer und immer wieder, wäre alles anders gekommen, wenn sie damals zu Hause geblieben wäre? Ihn einfach aus dem Leben gestrichen hätte? 

Als sie in die Strasse, in der sein Haus lag, einbog, kam es ihr ungewöhnlich still vor. Aber sie dachte sich nichts weiter dabei. Es war eben Ferienzeit, warscheinlich waren alle Nachbarn irgendwo an einem Strand. Bei dem durchschnittlichen Einkommen in dieser Gegend wahrscheinlich in der Karibik. Sie bog in seine Enfahrt ein, und sah, dass das Tor weit offen stand. Das war nun wirklich komisch. Vorsichtig näherte sie sich dem Tor, lief hinein, zur Haustür. Plötzlich polterte es drinnen. Ein Stöhnen. Sie hielt inne. Was war hier nur los? Aber es war zu spät um umzukehren. Hinter ihr schloss sich das Tor. Verunsichert trat Simona durch die Haustür, in seine riesige Villa. Es brannte kein Licht. Nur ein Schimmer, der unter der nächsten Tür hervordrang, erhellte den Raum etwas. Vorsichtig rief sie seinen Namen. „Wo bist du? Ich bins, Simona!“ Da spürte sie einen harten Schlag auf den Kopf. Ihr wurde schwarz vor den Augen noch bevor sie auf dem Boden aufschlug.

Als sie wieder zu sich kam, war es dunkel um sie herum. Sie lauschte in die sie umgebende Dunkelheit hinein. Stille. Mühsam rappelte sie sich auf. Schmerz explodierte in ihrem Kopf. Sie tappte sich Schritt für Schritt vorwärts. auf der Suche nach einem Lichtschalter. Sie lief durch eine Pfütze. Wasser vermutlich. Endlich fand sie den Lichtschalter. Als sie das Licht endlich einschaltete, fing sie an zu schreien. Sie war nicht durch eine Wasserpfütze gelaufen. Sondern durch eine Blutlache. Die aus dem Kopf einer blonden Frau floss. Einer toten blonden Frau, wie ihr die aufgerissenen, starren Augen unmissverstädnlich klar machten. Simona fing an zu zittern. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Was war hier los? Doch bevor sie auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde die auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes liegende Tür aufgerissen und sie starrte in die Mündung einer Pistole. „Hände über den Kopf!“ wurde sie von dem Polizisten angebrüllt.

Simona schauderte. Trotz der nahezu unerträglichen Hitze in ihrer Wohnung lief es ihr immernoch kalt den Rücken hinunter, wenn sie an das Gesicht der toten Frau dachte. Sie bekam es einfach nicht aus ihrem Kopf heraus. Es klebte in ihren Gedanken wie ein Kaugummi an einem Schuh. Ihn würde sie irgendwann vergessen. Diesen Anblick nicht. Das wusste sie. Ihre Katze sprang zu ihr auf den Schoss. Simona liess sie und begann, das Tier zu kraulen, bis das Fellknäuel genüsslich anfing zu schnurren, Das beruhigte sie wieder ein wenig. Doch ein Blick auf die Uhr liess die Unruhe wieder in in ihr aufkommen. Sie würde noch zu spät kommen.

Die Tage danach waren ein Albtraum gewesen. Der Polizist führte sie ab. Draussen warteten nicht nur etwa zwanzig weitere, bis auf die Zähne bewaffnete Polizisten, sondern auch eine Menge Schaulustiger, mit Aufnahmegeräten bewaffnete Journalisten und er. Sie wollte ihm zuschreien, er solle ihr helfen, er solle all diesen Fremden erklären, dass sie unschuldig sei. Doch er stand inmitten von Polizisten, Einer reichte ihm soeben eine Flasche mit Wasser. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Da hörte sie, wie er sagte: „Ich hätte nie gedacht, dass sie zu denen gehört. Oder dass sie zu so etwas fähig sein würde. Oh mein Gott, oh mein Gott…“. 

Sie wurde ins örtliche Gefängnis gebracht, befand sich offensichtlich in Untersuchungshaft. Seine Worte hallten immer wieder durch ihren Kopf. Was hatte er da gesagt? Wieso? Sie konnte, wollte es einfach nicht verstehen. Im Gefängnis erwarteten sie ausser einer unbequemen Zelle tausende von Befragungen auf die Sie keine Antwort wusste. Sie erfuhr, dass die blonde Frau die Tochter des Justizministers gewesen war. Alma Henders. Scheinbar hatte jemand ihm zwei Tage zuvor mit dem Mord an seiner Tochter gedroht, sofern er nicht dafür sorgen würde, dass Jack Johanson, der Spion der Red Union, aus dem Gefängnis entlassen würde. Und nun stand Simona unter Verdacht, als Auftragsmörderin für die Rot-Amerikanische Regierung gearbeitet zu haben. Was natürlich in keiner Weise der Wahrheit entsprach.

„Wo befanden sie sich am Abend des 26. Junis?“
„Mit wem hatten Sie in den letzten Wochen Kontakt?“
„Wer hat ihnen den Auftrag erteilt?“
„Für wen arbeiten sie?“ „Gebe sie endlich zu, im Auftrga der Rot Amerikanischen Staaten gehandelt zu haben!“ Lauter Fragen, die sie nicht beantworten konnte, Aufforderungen, denen sie nicht nachkommen konnte. Sie beteuerte immer und immer wieder ihre Unschuld.

Nach drei Tagen schliesslich wurde ihre Zellentür aufgerissen und ein magerer Mann, den sie noch nie gesehen hatte teilte ihr mit, dass sie gehen könne. Man habe nicht ausreichend Beweise gegen sie gefunden. Obwohl sie am Tatort war, fehlten ihre Fingerabdrücke an der Waffe, mit der Alma Henders erschossen worden war.
Nun war sie zwar nicht mehr in Haft. Aber eine gefangene ihrer kleinen Dachwohnung. Denn die Bevölkerung brauchte eine Schuldige. Simona wusste, wer der Schuldige war. Er. Er war der  Auftragsmörder. Deswegen war er immer wieder verschwunden. Die Polizei wusste das auch. Aber er war untergetaucht, niemand wusste wo er sich befand. Und wenn ein Mitglied der Red Union einmal weg war, wurde es nie wieder gefunden. Deswegen hatte der Fall von Jack Johanson für solches Aufsehen gesorgt. Aber er war ihnen entwischt. Und die Polizei wollt eunter keinen Umständen, dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Also war Simona für die gesamte Bevölkerung jetzt Staatsfeindin Nummer eins. Einfach so. Und niemand gab ihr die Chance, die wahre Geschichte zu erzählen.  Denn eines wurde ihr klargemacht: Sollte sie reden, würde sie umgehend wieder im Gefängnis landen. 

Es klingelte an der Tür. Sie schaute in den Bildschirm und sah den Boten, den sie bestellt hatte. Endlich, das wurde ja auch langsam Zeit. Sie liess den kleinen Warenlift mit dem Geld hinunter und nahm dann das Paket entgegen. Alles war drin. Die Perrücke setzte sie gleich auf. Ihre Lippen schminkte sie in einem grellen Rot. Einfach nur, weil sie so einer Filmschauspielerin aus dem vorigen Jahrhundert glich, die sie sehr mochte. Dann holte sie ihren fertig gepackten Koffer aus dem Schlafzimmer, steckte ihre Katze in ihren Transportkorb, kontrollierte, dass sie das wichtigeste dabei hatte, das Flugticket. Dann verliess sie ihre Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.